«Ein völliger Schwachsinn!» – Besuch bei den Bürgenstock-Anwohnenden
Mittwochmorgen, 10 Uhr. Die ersten Sonnenstrahlen haben das luxuriöse Bürgenstock Resort, in dem in einer Woche die mächtigsten Köpfe der Welt zusammenkommen und über einen Frieden in der Ukraine sinnieren werden, bereits erreicht.
Der Hafen von Stansstad liegt noch in dessen Schatten. Plötzlich ertönt ein lautes Donnern. Ein Ehepaar mittleren Alters, das auf das Schiff wartet, schaut auf. «Das ist bestimmt schon die vierte Runde, die dieser Kampfjet heute dreht!» Der Mann muss rufen. Seine Frau neben ihm würde ihn sonst nicht verstehen. Aber er will auch rufen. Ausrufen. Er ist hässig.
Mit diesem Gefühl ist er nicht allein. Auch andere Wartende regen sich auf: «Ein huere Lärm die ganze Zeit!» – «Wie wird das denn, wenn die Präsidenten einfliegen?» – «Ein völliger Schwachsinn ist das!» Manche zucken hingegen nur resigniert die Schultern: «Wenigstens merken wir sonst nichts. Nicht so wie die in der Sicherheitszone.»
Stacheldraht am Hang
Der Plan für die Sicherheitszone steht. Die Zone selbst noch nicht. Deshalb fahren den ganzen Tag Militärjeeps durch Stansstad. Die Soldaten sind daran, alles abzusperren.
Die Jeeps fahren an der Badi vorbei und schlängeln sich der steilen Felsmauer dem See entlang bis nach Kehrsiten. Dort, wo die schmale Einbahnstrasse, die normalerweise nur Anwohnende benutzen dürfen, endet.
Das Haus einer 76-Jährigen befindet sich direkt an dieser Strasse und knapp nicht in der Sicherheitszone. Die Frau steht in der Einfahrt, wischt Blätter zusammen und beobachtet die Strasse, den Himmel und den See. Auch auf letzterem dreht das Militär mit einem Schnellboot seine Runden.
Das grosse Militäraufgebot hinterlässt bei der 76-Jährigen ein mulmiges Gefühl. «Hoffentlich passiert an der Konferenz nichts», sagt sie. Sie hätte es lieber gehabt, hätte die Schweiz überhaupt keine Friedenskonferenz veranstaltet. Aus ihrer Sicht ist diese nicht mit der Neutralität zu vereinbaren. «Und aus Sicht Putins ja auch nicht.»
Auch werde die Konferenz keinen Frieden bringen. «Russland kommt ja nicht. Was bringt das Ganze dann überhaupt?», fragt sie und antwortet sich gleich selbst: «Nichts, ausser noch mehr reiche Touristen, die den Bürgenstock künftig stürmen werden.»
Der Krieg in der Ukraine geht ihr dennoch nahe: «Dieses sinnlose Töten soll endlich aufhören!» Aber was könne sie als Bürgerin schon dagegen tun?
Unten Militär, oben Jazz
Ein weiterer Jeep braust vorbei. Er kommt erst kurz vor dem Ende von Kehrsiten, oberhalb des kleinen Hafens, zum Stehen. Dort, wo bereits eine Gruppe Soldaten wartet. Sie legen Stacheldraht auf einer Wiese aus, dem Hang entlang bis zum Wasser.
Von Osten her führen nur Wanderwege an die Schifflände. Sie sind bereits gesperrt. Das zeigen Aufkleber auf den Wanderwegweisern. Rot auf Gelb.
Von hier aus auf den Bürgenstock gelangt man nur noch mit der Bürgenstockbahn. Dort angekommen, hoch oben über dem See und den Dörfern, wo die Mächtigsten der Welt bald logieren und diskutieren werden, merkt man nichts mehr von Sicherheitsvorbereitungen. Auf der Terrasse läuft laute Jazzmusik. In den Lounges essen gut gekleidete Touristen Kalbsrücken, Sushi, Spargel. Dazu servieren Angestellte in weissen Hemden Wein. Auf dem ganzen Gelände des Resorts ist kein einziger Mensch in Militäruniform zu sehen, kein Militärboot zu hören, kein Stacheldraht aufgestellt.
Ungerührte Bauern mit abgelaufener ID
Vom Hotel aus muss man eine Weile die geschwungenen Strassen hinablaufen, bis man auf dem Bürgenstock auf Einheimische trifft: Sie heuen an den steilen Hängen. Haben keine Zeit, Fragen zur Friedenskonferenz zu beantworten. Ihre Sorge gilt gerade nicht der Ukraine, nicht der Sicherheit der Präsidentinnen und Präsidenten, sondern dem Regen, der bald einsetzen könnte.
Was auf dem Bürgenstock läuft, betrifft sie nicht. Das finden zumindest die einzigen beiden Bauern, die an diesem Nachmittag Zeit für einen Schwatz haben. Sie sind pensioniert und wohnen inmitten der bald abgesperrten Sicherheitszone.
Sie wissen genau, was demnächst auf ihrem Berg los sein wird. Können aufsagen, welche Länder zugesagt haben und welche nicht, wie viele Militärleute der Bund aufgeboten hat («4000»), wie viel eine Nacht im Bürgenstock Resort kostet («Über 1500 Franken!») und wo die Flugzeuge landen werden («Auf dem Militärlandeplatz in Buochs. Und unten auf der Allmend bei Obbürgen, da bauen sie gerade einen provisorischen Helikopterlandeplatz.»).
Trotzdem geben sie sich desinteressiert. «Die sollen die Konferenz ruhig machen. Etwas bringen wird’s aber nicht. Nur Geld wird’s uns kosten», findet der Ältere.
Ab dem 13. Juni müssen sie immer einen Aufweis und Badge bei sich tragen, um vom Tal zurück in ihr Zuhause zu gelangen. Der Ältere muss bei dieser Vorstellung schmunzeln. «Ich weiss gar nicht, ob ich dann noch nach Hause kommen kann!», sagt er. «Wieso?», fragt der Jüngere. «Meine ID ist abgelaufen.»
Führerschein oder Pass würden auch akzeptiert, meint sein Kollege. Doch der Ältere winkt ab und beginnt laut zu lachen: «Ich habe noch immer denselben Führerschein wie damals, als ich das Billett mit 18 Jahren gemacht habe.»
Der Jüngere schaut verdutzt. Versucht seinem Freund zu erklären, dass er mit seinem Führerschein gar nicht mehr herumfahren dürfe. «Doch sicher! Das mache ja schon seit Jahren.» Der Jüngere kann nur noch den Kopf schütteln. Der Ältere muss wieder laut lachen. Dann fügt er an:
Er meint es nicht ganz ernst. Denn wahrscheinlich wird er den Hof, den sein «Junior» übernommen hat, während der Konferenz sowieso nicht verlassen. Er hat vorgesorgt, Vorräte gekauft. Gut möglich gar, dass er die Konferenz gar nicht gross mitbekommen wird. Denn auf den Bauernhöfen direkt unter der grossen Hotelanlage ist auch jetzt kaum etwas von den Vorbereitungen zu spüren.
Eltern müssen Kinder in die Schule begleiten
Je weiter man ins Tal gelangt, desto seh- und hörbarer werden die Sicherheitsvorkehrungen. Kurz vor dem Dorf Obbürgen, an dessen Grenze die Sicherheitszone verlaufen wird, hat das Militär eine ganze Wiese mit Stacheldraht eingezäunt.
In deren Mitte bauen Soldaten einen Helikopterlandeplatz. Zahlreiche Lastwagen und laute Geräte sind im Einsatz. Alles, damit die hochrangigen Gäste auf dem abgesicherten und abgeriegelten Gebiet ankommen können. Direkt neben dem Misthaufen eines Bauernhofs.
Das Dorfzentrum von Obbürgen ist währenddessen voller Soldaten. Sie haben sich auf dem Pausenplatz der Schule einquartiert. In einer Nebenstrasse spielen Kinder. Ihre Mütter sitzen daneben, beobachten das Treiben mit zusammengekniffenen Augen. Ihnen gefällt nicht, was sie sehen. «Am meisten stört mich, dass man uns Anwohnerinnen nicht gefragt hat», sagt die eine. Wegen der vielen Einschränkungen.
Während der Konferenz brauche jedes Auto einen Spezialsticker, um passieren zu dürfen. Besucher seien nicht erlaubt. Spaziergänge ins Tal verboten. Und das Schlimmste: Die Eltern sind verpflichtet, ihre Kinder jeden Tag zur Schule zu begleiten und abzuholen. «Wie soll das gehen? Heutzutage gehen auch Mütter arbeiten! Wir sind beide alleinerziehend! Wer hat sich sowas ausgedacht?»
Der Bund sollte mit diesem Geld lieber seine eigenen Bürgerinnen und Bürger unterstützen, finden die beiden Frauen. «Etwa für bezahlbaren Wohnraum sorgen, anstatt eine Konferenz veranstalten, die maximal ein Zeichen für Frieden aussenden soll.»
Dieser symbolische Wert kommt zumindest bei einem ihrer Kinder an. Es sagt:
Sein Mami lacht und nickt. Natürlich wünsche sie sich, dass der Krieg in der Ukraine aufhöre. Aber dass die Schweiz mit dieser Konferenz etwas ausrichten könne, bezweifelt sie. Für sie ist klar: «Wenn die Schweiz wirklich Frieden auf der Welt wollen würde, müsste sie aufhören, mit Waffen Geld zu verdienen. Diese Konferenz, die ist einfach scheinheilig!»