Reisebericht eines Wahnsinnigen: So war die Fahrt ins Tessin
Viasuisse hat allen Reisenden geraten, entweder am Mittwoch oder in der Nacht auf Freitag ins Tessin zu fahren. Denn zu den übrigen Zeiten werde extrem viel Stau erwartet – viele gehen von einem Rekordstau aus. Das ist abschreckend. Dennoch musste ich über Ostern aus beruflichen Gründen ins Tessin fahren und konnte auch die Reisezeit nicht frei auswählen: Gründonnerstag, 17 Uhr, von Luzern nach Lugano, mit Umsteigen in Arth-Goldau. Um den Strassenstau zu vermeiden, wich ich also auf die Schiene aus. Doch auch die SBB gehen von vielen Reisenden und vollen Zügen aus und warnten schon im Voraus: Wer keinen Sitzplatz reserviert hat, darf nicht mitreisen.
Schon vor Antritt erste Probleme
Die erste vermeintliche Hiobsbotschaft erreichte mich schon am frühen Nachmittag. Da ich ja vorausschauend reisen wollte, reservierte ich mir einen Sitzplatz im Zug, – sodass ich sicherlich im Tessin ankommen würde, irgendwie. Nun aber erschien in der SBB-App plötzlich eine Meldung: «Dieser Zug wird verkürzt geführt». Anstelle zweier Zugteile würde nur einer verkehren. Welche Wagen aber in den Süden fahren würden, stand nicht fest. So wusste ich auch nicht, ob mein reservierter Platz im Depot stehen bleibt oder in Lugano ankommen wird.
Dennoch trat ich die Reise an. Was gäbe es sonst für Alternativen? In die Sonnenstube der Schweiz muss ich ohnehin und notfalls würde ich dann halt geltend machen, dass ich einen reservierten Sitzplatz habe und auf die Mitreise bestehe.
Ruhe vor dem Sturm
In Luzern war um 20 nach 5 alles ruhig. Der langsame «Treno Gottardo», der Reisende nach Arth-Goldau und von dort im Schnellzug nach Bellinzona bringen sollte, schien nur mässig belegt. Es standen weder auf den Perrons viele Leute, noch war der Zug übermässig voll – eher ein «Stosszeiten-voll», das man erwarten konnte. Leider aber sollte die Fahrt in diesem Zug nur eine gute halbe Stunde dauern.
«Ohne Reservation wird’s heute schwierig», liess der Kondukteur dieses Zuges verlauten. In Arth-Goldau dürfe man nicht weiterfahren, wenn man nicht reserviert habe. Als er mich kontrollierte, versicherte er: «Doch, doch, ihr Sitzplatz fährt mit. Gute Reise!» Die Frau schräg gegenüber nahm seine Aussage aber weniger erleichtert hin. Sie wolle doch nur ein paar schöne Tage im sonnigen Süden verbringen, da müsse man doch nicht reservieren?
Hühnerstallmässige Belegung
Pünktlich kamen der Zug und ich mit ihm in Arth-Goldau an. Die kühle Abendluft im Kanton Schwyz sollte ein schöner Gegensatz zur hitzigen Situation im Schnellzug sein. Denn schon auf dem Gleis wurde klar, was Sache ist. Hier wird um jeden Platz gekämpft. Hunderte Reisende reihten sich bei den Türen auf – bei einem Zug, der bereits komplett voll im Bahnhof einfuhr.
Schon bevor sich die Türen öffneten, drückten die Reisewilligen wie Wahnsinnige auf die Öffnungs-Knöpfe, in der Hoffnung, dass sich die Tür doch schneller öffnen würde. Glücklicherweise war ich einer der Ersten, die den Zug in Arth-Goldau betreten konnten und fand alsbald meinen Platz. Mit einem kurzen «Entschuldigen Sie, ich habe diesen Platz reserviert», konnte ich den Platzbesetzer loswerden. Er sass fortan auf der Treppe.
Wir fahren, aber sollten wir?
Der Fall, vor dem die SBB warnten, trat natürlich ein. Der Zug war heillos überfüllt. «Ein Sicherheitsrisiko ist das!», reklamierte ein älterer Herr, als er jene betrachtete, die auf den Gängen sassen. So hätte der Zug nicht losfahren sollen. Das war allen bewusst. Denn ein Durchkommen war nicht möglich: Nebst Koffern sassen junge und alte Menschen auf den Treppen, auf den Gängen und auf den Gepäckablagen, sowohl in der zweiten als auch in der ersten Klasse. Aber ganz ehrlich: Wer wäre schon willig gewesen, seinen Stehplatz aufzugeben und zurückzubleiben?
Vom langen Stau auf der Strasse jedenfalls sah ich während meiner ganzen Zugfahrt nichts. Denn während früher die Fahrt über die Gotthard-Bergstrecke ab Wassen immer einen schönen Ausblick auf die Blechlawine geboten hatte, flitzte der Zug am Donnerstag mit über 200 Kilometern pro Stunde durch den Gotthard-Basistunnel. Und obschon der Zug pumpenvoll und die Luft ziemlich stickig war, vor allem, nachdem mein Sitznachbar einen Döner gegessen hatte, stand die Ankunftszeit fest. So hielt sich die Leidensdauer in Grenzen. Wäre ich im Auto unterwegs gewesen, würde ich wohl jetzt noch vor dem Gotthard stehen – ohne absehbares Ende.
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