Obdachlos - Ein Leben im Abseits
Die Stadt Luzern ist bekannt für ihre schönen Seiten. Touristen aus aller Welt besuchen sie, um Fotos der Kapellbrücke, dem Löwendenkmal und anderen Sehenswürdigkeiten mit nach Hause zu bringen. Aber wie jede andere Stadt, hat auch die sogenannte «Leuchtenstadt» ihre Schattenseiten. Wie ist ein Leben im Abseits der Gesellschaft – und wie landet man überhaupt erst dort? Darüber berichtet Radio-Pilatus in einer Wochenserie.
Die Geschichte von Fritz, heute 50 Jahre alt, beginnt in Bern. Er wächst zusammen mit seiner Schwester und seinem Bruder bei seiner Mutter auf. Schon als Junge, passend zu seinem Sternzeichen Stier, beginnt er sich seine Hörner abzustossen. Immer öfter gibt es zu Hause Zoff, auch mit der Polizei hat Fritz schon als Jugendlicher zu tun. Mit 15 Jahren fängt für ihn dann ein Leben an, für das er nicht bereit ist. Ein Leben, das ihn für viele Jahre nicht loslassen wird. Ein Leben im Heim, im Gefängnis und auf der Strasse.
Teil 1: Wer ist Fritz. Audio: Caspar van de Ven
Sex, Drugs and Rock'n'Roll
Mit 17 Jahren landet Fritz, nur gerade mit einer Sporttasche unter dem Arm, auf der Strasse. Auch wenn er nicht weiss, wie er sich in diesem neuen Leben zurechtfinden soll, geniesst er die neugewonnene Freiheit auch. Er lernt das Berner Nachleben kennen, macht Bekanntschaften mit Frauen – mehr und mehr aber auch mit Drogen.
«Ich fühlte mich wie der Ober-Hero auf der Guetzli-Büchse.»
Sex, Drugs and Rock'n'Roll - so beschreibt er sein damaliges Leben. Doch trotz all dem Spass, Fritz fühlt sich auch alleine. Und in diesen Momenten, in denen ihm selber klar wir, dass sich sein Leben in eine falsche Richtung entwickelt, werden Drogen immer wichtiger für ihn. Sie helfen zu vergessen, sie helfen nicht zu viel zu denken. Wegen seiner Kokain- und Heroinsucht rutscht Fritz aber auch in die Kriminalität ab, und findet erst im Alter von 30 Jahren wieder einen Ausweg.
Teil 2: Der Weg nach Luzern. Audio: Caspar van de Ven
Ein Neustart in der Zentralschweiz
Nachdem Fritz fast sein gesamtes Erwachsenenleben auf der Strasse oder im Gefängnis verbracht hat, wird der Ruf nach einer Veränderung immer stärker. Er will raus «aus dem Scheiss» und ein neues Leben anfangen. Ihm ist klar, dass er dies in Bern nicht machen kann. Zu vieles zieht ihn immer wieder zurück in ein Leben, dass er nicht mehr will. Deshalb lässt er alles hinter sich. Er erhält die Möglichkeit auf der Südseite der Rigi auf einem Bio-Bauernhof zu leben. Während dieser Zeit ist er clean, arbeitet und schliesst neben der Arbeit die Handelsschule ab.
«Es war eines meiner besten Jahre – ich habe wieder einmal alle vier Jahreszeiten aneinander draussen erleben dürfen.»
Fritz ist glücklich. Mehr und mehr glaubt er daran, dass er es schafft, seine Vergangenheit hinter sich zu lassen. Doch dann ein tragischer Schlag: Seine damalige Freundin nimmt sich das Leben. Und für Fritz fällt alles in sich zusammen.
Teil 3: Der Absturz. Audio: Caspar van de Ven
Der schwierige Ausstieg
Für Menschen, die so tief im Abseits gelandet sind wie Fritz, ist es alles andere als einfach, wieder in ein normales Leben zurückzukehren. Arjen Faber kennt die Probleme. Er arbeitet seit über 20 Jahren in der Gassenarbeit – die Gassenküche Luzern hat er während Jahren geleitet. Für ihn ist klar: Drogensüchtige, die auf der Strasse gelandet sind, brauchen Anschluss an die Gesellschaft. Sie brauchen eine Aufgabe, für die sie Wertschätzung erhalten. Gerade in diesen Bereichen sei der Umgang mit Suchtkranken in den letzten Jahren nicht besser geworden.
«Nur vier Prozent schaffen es, ihre Heroinsucht nachhaltig zu überwinden»
Immer weniger Betroffene würden heute beispielsweise Therapien erhalten, um von ihrer Sucht wegzukommen. Heroinabhängige würden vermehrt substituiert, also mit Ersatzdogen behandelt, anstatt dass sie eine richtige Therapie erhalten. Damit bekämpfe man aber hauptsächlich die Symptome und nicht die Ursache. Der Grund dafür sei einmal mehr Geld: Therapien seien teurer als die Abgabe von Ersatzdrogen, so Faber.
Teil 4: Die Einschätzung des Experten. Audio: Caspar van de Ven
Schritt für Schritt näher am Ziel
Nach Jahren des Drogenkonsums, der Kriminalität, der Ungewissheit und Obdachlosigkeit, steht Fritz heute, mit 50, besser im Leben. Er ist seit fünf Jahren mit Marion verheiratet. Fritz kämpft noch immer mit seiner Sucht; hat diese, wie er selbst sagt, aber im Griff. Für den Verein «Abseits Luzern» macht er als Tour-Guide Führungen durch die Stadt. Dabei zeigt er Besuchergruppen, wie und wo er gelebt hat. Häufig kommen Schulklassen an die Führungen – und genau diese aufklärende Arbeit ist Fritz wichtig geworden.
«Wenn ich nur eine Person aus einer Schulklasse davor bewahren kann, dieselben Fehler zu machen wie ich, motiviert mich das weiterzumachen.»
Deshalb will Fritz seine Arbeit in der Jugendprävention ausbauen. Auch wenn er sein Leben nicht missen möchte, wünscht er es niemandem. Er hofft, dass er in Zukunft mehr jungen Menschen zeigen kann, wie schnell man ins Abseits rutscht. Schliesslich sei er selbst das beste Beispiel dafür: Die Entscheide, die er als Jugendlicher traf, hätten ihn noch heute, über 35 Jahre später, nicht losgelassen.
Teil 5: Schritt für Schritt näher ans Ziel. Audio: Caspar van de Ven
Hinweis: Die hier publizierte Reportage erstellte Radio Pilatus-Redaktor Caspar van de Ven im Rahmen seiner Diplomausbildung am Medienausbildungszentrum MAZ.