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Willisau – eine Kleinstadt als offenes Geschichtsbuch

Geschichte

Willisau – eine Kleinstadt als offenes Geschichtsbuch

Kurt Messmer / Schweizerisches Nationalmuseum, 12. Oktober 2024, 15:33 Uhr
Türme und Mauern grenzen mittelalterliche Städte nach aussen ab. Im Innern bewirken geschlossene Häuserzeilen, dass aus Gassen und Plätzen stimmungsvolle Räume werden. Beispiel Willisau, Aufnahme vor 2013.
© Stadtarchiv Willisau, Bruno Bieri
In Kleinstädten summiert sich Kulturgeschichte. Vielfältige Zeichen prägen den öffentlichen Raum und das historische Bewusstsein. Willisau ist kein Unikum, sondern erzählt anschaulich aus seiner typischen Biografie. Zugleich ist die Kleinstadt reich an packenden Eigenheiten. Das Typische lehrt, das Besondere lockt.

Eine Stadtgeschichte folgt der Chronologie, eine Stadterkundung dem nächsten Schritt. Dabei geht es chronologisch und thematisch drunter und drüber. Am Schluss ergibt sich dennoch ein Gesamtbild, allerdings mehrteilig, dazu mehrdeutig. Es fehlt weder an gesichertem Wissen noch an anregenden offenen Fragen. Willkommen in Willisau, Amtshauptort und Mittelpunkt des Luzerner Hinterlands.

Das Untertor

Ein Empfang wie im Bilderbuch. Prächtig, dieser Torturm mit seiner monumentalen Uhr, Gold auf Schwarz und Rot. Doch halt: Ist seine Öffnung nicht etwas gross geraten? Waren die Fuhrwerke im Mittelalter so hoch beladen? – Aha, das Tor stammt von 1980, Werkstoff Beton, der Durchlass so geräumig, dass auch die Feuerwehr und zweistöckige Cars passieren können.

Willisau, Untertor, Baujahr 1980. Blick von der Bahnhofseite ins «Städtli».
© Kurt Messmer

Das Untertor auf Eckdaten reduziert: 1347 erster Nachweis, 1471 abgebrannt und wieder aufgebaut, 1704 abgebrannt und wieder aufgebaut, 1854 abgebrochen, nicht wieder aufgebaut, 1980 nach alter Bildvorlage neu erbaut.

Dazu gibt es zwei Standpunkte: a) Eine solche Baulücke erinnert an die Entfestigung der Städte im 19. Jahrhundert und an die erreichte Gleichberechtigung von Stadt und Land. Die Lücke muss bestehen bleiben. Ein Ersatzneubau nach 126 Jahren ist Geschichtsklitterei, typisch für die 1970er-Jahre. Damals werden «historische» Gebäude da und dort frei erfunden; b) Vorsicht. Eine Baulücke darf nicht mit zu viel historischer Bedeutung aufgeladen werden. Das heutige Tor sei «Hollywood»? Wer behauptet denn, es handle sich um jenes von 1347, 1471 oder 1704? – Bitte zutreffende Aussage ankreuzen.

Willisau aus der Luft, 1962. Am unteren Rand ist die Baulücke zu erkennen, wo 1980 das Untertor neu erbaut wurde.

Der alte Spittel – Licht und Schatten

Eine Stadt hat ein Spital, ein Dorf nicht. Seit den Stadtgründungen wird im Spittel für Bedürftige gesorgt. Hier gibt es Nahrung, Unterkunft und Pflege für Alte und Kranke, für ledige Mütter und elternlose Kinder, für körperlich und geistig Beeinträchtigte, für Bettler und Aussenseiter, vorerst zeitweilig, später auf Dauer. Auch Pilger erhalten Obdach und Wegzehrung.

Willisau, alter Spittel, Aussenseite. Im Städtli reicht die Tradition der Lauben bis ins Spätmittelalter zurück und wird in der Bauordnung teils noch heute eingefordert. Punkto Form, Material, Farbe besteht viel Spielraum, wie sich vor allem in der Schaalgasse zeigt. «Vaut le détour.»
© Kurt Messmer

1861 übernehmen Ingenbohler Schwestern die Pflege und Obhut der Bedürftigen, nach neuen medizinischen Methoden: Die Betten der Kranken werden oftmals auf die erneuerten extra breiten Lauben gestellt. Licht und Luft sollen die Genesung fördern.

Doch der Schatten ist nicht weit. In der Hausordnung der «Armenanstalt» von 1903, wie der Spittel nun heisst, steht zu lesen: «Den Anstaltsgenossen ist der Besuch der Wirts- und Kaffeehäuser sowie aller Privathäuser im Städtchen und ausserhalb strenge verboten, und zwar bei einer Strafe von 1 bis 3 Tagen Einsperrung bei Wasser und Brot.» Ein detaillierter Katalog von Strafandrohungen. Eingesperrt werden die Fehlbaren in hölzernen Arrestzellen. Kein Licht, lauter Schatten.

Willisau, Spittel, Verwahrungszellen aus dem 19. Jahrhundert, je mit einem Schieber zum Durchreichen von Verpflegung (Mitte) und für die Entsorgung des Nachttopfs (unten). Die Arrestzellen dienen damals vorübergehend auch für Kranke, die noch nicht mit Medikamenten ruhig gehalten werden können.
© Kantonale Denkmalpflege Luzern, Fotohaus Schaller Willisau

Ist die Welt heute besser als zur Zeit der «Armenanstalt» 1903? Die Welt?! Im ehemaligen Spittel gibt es inzwischen eine Ludothek, auf den Lauben Spielgeräte für Kinder.

Kleintier­hal­tung im ländli­chen Städtchen und gelegent­li­cher Ärger für die Besitzer

Nur wenige Meter von der ehemaligen Armenanstalt entfernt bleibt der ländliche Charakter der Kleinstadt sichtbar. Auf der Rückseite der Bauten an der Kirchgasse erinnern im gemauerten Erdgeschoss noch immer massive Holztüren an ehemalige Ställe für Kleinvieh.

Willisau, Bauten am Schlossrain. Stalltüren als Zeitzeugen.
© Kurt Messmer

Bis in jüngere Zeit hilft Selbstversorgung vielen Menschen, über die Runden zu kommen. Gartenarbeit erbringt Gemüse, Früchte, Beeren. Kleintiere liefern Fleisch, Milch, Eier, Wolle, Felle. In einigen Hausställen am Schlossrain wird bis in die 1950er-Jahre Kleinvieh gehalten. Wer einem Besitzer einen Streich spielen will, öffnet dessen Stalltüren, am besten während der Sonntagsmesse. Resultat: Nach dem Hochamt beginnt das Einsammeln der Tiere im ganzen Städtli.

Das Rathaus – einst Kaufhaus und Theater

Im Wesentlichen ist eine Stadt im Mittelalter ein befestigter Markt. Also gehören «Kauff-haus und Mezig» an einen zentralen Standort. In Willisau wird vorerst beim Kirchplatz Markt gehalten, seit 1720 im neu erbauten Kaufhaus fast in der Mitte der Hauptgasse.

Das ehemalige Kaufhaus von Willisau. Die Bezeichnung Rathaus wird vermehrt seit 1912 verwendet. Damals erfolgt im ersten Obergeschoss der Einbau eines Bürgersaals, zudem erhält der Bau die bestehende Jugendstil-Fassade. Bis in die 1950er-Jahre dient das Erdgeschoss als Schlachthaus. Heute wird der Raum genutzt für Kultur.
© Kurt Messmer

Die Marktfunktion der Kaufhäuser geht aus den Bezeichnungen der einzelnen Geschosse hervor: In Willisau befindet sich im Erdgeschoss die Halle für den Fleischverkauf (Schaal), im ersten Obergeschoss die Tuchlaube, wo auch mit Korn gehandelt wird und Wochen- und Jahrmärkte stattfinden. Noch immer erinnert eine eiserne Doppel-Elle beim Eingang an den hiesigen Tuchhandel.

Im benachbarten Sursee treffen wir im «Rathaus» auf einen Warenumschlag (Sust), auf eine Ankenwaage und eine Tuchlaube, in Sempach auf eine Metzg und eine Tuchlaube. In Luzern wird damals wie heute unter der Egg Markt gehalten, das Geschoss darüber heisst noch immer Kornschütte. Funktionsbezeichnungen als Gucklöcher in die Vergangenheit.

Vielerorts werden Markthallen auch als Tanzlauben und zum Theaterspielen genutzt. Fest eingerichtete Bühnen und Zuschauerräume sind in Kaufhäusern eher selten, erst recht in dieser Anmut.

Theatersaal im Rathaus Willisau. 1804 wird die Theater- und Musikliebhaber-Gesellschaft Willisau gegründet, 1811 bewilligt die Bürgergemeinde den Einbau eines Theaters im zweiten Stock des Kaufhauses. Bei der Gesamtrestaurierung erfolgt 1991 der Umzug ins Dachgeschoss.
© Stadtarchiv Willisau, Bruno Bieri

Typisch: Der Einmarsch der Franzosen in die Schweiz macht die Untertanen 1798 zu gleichberechtigten Bürgern, eine unerhörte Errungenschaft. In städtischen Zentren verkörpert sich das Bürgertum bald darauf in Vereinigungen aller Art. Willisau ist mit seinem Theater- und Musikverein ein frühes Beispiel dieser Entwicklung.

Speziell: Die Zeichen für ein stimmungsvolles Theater stehen in Willisau 1811 besonders günstig. Die Theater- und Musikliebhaber-Gesellschaft kann die Bestuhlung aus ansteigenden hölzernen Sitzbankreihen aus dem nahen Kloster St. Urban übernehmen, und der Willisauer Kunstmaler Xaver Hecht malt einen prachtvollen Theatervorhang: im Zentrum vor einer Landschaftskulisse der griechische Gott Apollo mit einer Lyra, umgeben von drei musizierenden Putten und drei tanzenden Grazien; als Gott der Künste und der Musik wird er gleichzeitig von zwei Pferden durch die Luft gezogen. Das Barocktheater von Willisau ist ein Kleinod.

Gasthaus Adler – was gemalt und was gemeint ist

Einige Schritte Richtung Obertor, auf der anderen Gassenseite, wird am Adler und am Sternen an den Bauernkrieg von 1653 erinnert, den bedeutendsten Aufstand der alten Schweiz. In den Quellen taucht europaweit zum ersten Mal der Begriff «Revolution» auf. Die Aufständischen, von der Obrigkeit als «Herrgottslumpen» verachtet, setzen dem Herrenbund kühn einen Bauernbund entgegen, lassen sich aber spalten. Das nutzen die «Gnädigen Herren» gnadenlos zu blindwütiger Rache.

Willisau, oben das Landvogteischloss [B], 1695 angebaut an den bestehenden Chutzenturm, unten die Stadt. Repräsentative Architektur als Machtdemonstration. Deutlicher lässt sich das Gefälle zwischen Obrigkeit und Untertanen nicht zur Schau stellen. Vorbei die Zeit, als der Luzerner Landvogt in den Niederungen der Hauptgasse vorerst auf gleicher Höhe mit den Einheimischen lebt. David Herrliberger: Topographie der Eydgenossschaft, Zürich 1754–1773 (Ausschnitt).

Bemerkenswert, dass sich 1653 in religiös erregter Zeit sowohl die Bauern als auch ihre Regierungen über die Konfessionsgrenzen hinweg zusammenschliessen. Bei den Aufständischen gibt der Wille zum Widerstand den Ausschlag, bei den Herrschenden der Wille zum Machterhalt.

Willisau, Adler, Fassadenmalerei von 1943 in Erinnerung an den Bauernkrieg von 1653. Oben vier Bauernführer, von links Antoni Farnbühler, Niklaus Leuenberger, Christian Schibi und der einheimische Johann Jakob Peyer. Der Text dokumentiert, dass sich die Aufständischen hier versammelten und woher sie kamen: «vom Entlebuch, Emmental u. [Luzerner] Hinterland, vom Gäu, Freien Amt u. Ober-Aargau, vom Solothurner und vom Baselbiet».
© Kurt Messmer

Die Malerei entsteht mitten im Zweiten Weltkrieg, 1942/43. Noch geht die Angst um, die Schweiz, «das kleine Stachelschwein», könnte von der deutschen Wehrmacht «auf dem Rückweg» eingenommen werden. Vor diesem Hintergrund wird die Fassadenmalerei am Adler zu einem Akt der geistigen Landesverteidigung. In gefahrvoller Zeit ist nicht zuletzt Widerstand der Bauern gefragt. Sie sollen die «Anbauschlacht» schlagen. Beschworen wird zudem die Einheit von Stadt und Land. Das städtisch-ländliche Willisau ist dazu prädestiniert. Gemalt wird der Bauernkrieg, gemeint ist der Zweite Weltkrieg.

Gassen­sa­nie­rung und eine Quelle, die sich nur ein einziges Mal lesen lässt

2013 blicken Farnbühler, Leuenberger, Schibi und Peyer, jene vier Bauernführer von 1653, noch immer auf den Kirchplatz hinunter. Als ehemaliger Marktplatz verspricht er besonders wertvolle Auskünfte über die Vergangenheit der Stadt. Um an diese Nachrichten zu kommen, Bodenfunde, braucht es Zeit und Geld. Die Zeit drängt, das Geld fehlt. Es ist März, die Sanierung der Hauptgasse soll im September abgeschlossen sein.

Die Luzerner Regierung stutzt die ursprünglich geplante Rettungsgrabung auf dem Kirchplatz aus Spargründen um 80 Prozent; die Untersuchung der Hauptgasse wird vollständig preisgegeben. Die Kantonsarchäologie und die Heimatvereinigung Wiggertal wehren sich mit allen Mitteln, erfolglos. Der zuständige Grabungsleiter stellt fest: «Die Lebensspuren von mindestens 30 bis 40 Generationen werden ohne Dokumentation abgetragen. Zurück bleibt geschichtsloses Terrain.»

Willisau, Gassensanierung 2013, Situation vor dem Rathaus, hinten das Untertor. Auf eine archäologische Untersuchung der Hauptgasse wird für immer verzichtet.
© Kantonsarchäologie Luzern

Schriftliche Quellen unterscheiden sich diametral von Bodenfunden. Eine Urkunde wie der Bundesbrief lässt sich immer aufs Neue analysieren. Bodenfunde dagegen können nur ein einziges Mal ausgegraben werden. Beim Ausgraben wird die originale Fundstelle zwar nach allen Regeln der Kunst dokumentiert, doch letztlich zerstört. Geht nicht anders. Kein Archäologe steigt zweimal in denselben historischen Boden, auch nicht in Willisau.

Die Pfarrkir­che – ein Elefant mitten in der Stadt

Kirchplatz. Willisau hat die grösste Landkirche im Luzernbiet. Doch was heisst schon grösste, höchste, längste. Die klassizistische Pfeilerhalle, entworfen von Josef Purtschert, dem grossen Baumeister aus Pfaffnau unweit St. Urban, hat Klasse. Deckenfresken und Altarbilder stammen, wie der Theatervorhang im Rathaus, vom Willisauer Kunstmaler Xaver Hecht. Erstaunlich ist vor allem die 800-jährige Geschichte in vier Bauetappen, die ausgeprägter kaum sein könnten.

Willisau, Pfarrkirche Peter und Paul, 1810. Der Standort dominant, das Volumen überwältigend, die Bauetappen unübersehbar.
© Kurt Messmer

Da stimmt etwas nicht. Der Turm, entstanden nach 1200, ist ursprünglich romanisch; das zeigen seine rundbogigen Öffnungen und die einfachen Kapitelle. 1647 wird er um ein Stockwerk erhöht und bekommt mit einer welschen Haube ein barockes Profil. 1810 sprengt der klassizistische Neubau sämtliche Dimensionen und degradiert selbst den erhöhten Turm zum Zwerg.

Die Reichweite des Kirchengeläuts bleibt beschränkt. Das soll geändert werden. 1929 wird ein monumentaler Glockenturm auf das Kirchdach gesetzt, mit Kupferplatten verkleidet, der Elefant, wie er in Willisau nicht ohne Wohlgefallen genannt wird. Seither rufen sieben teils riesige neue Glocken über die Lande, bloss folgen ihnen heute immer weniger Gläubige.

Der Kunstdenkmälerband zu Willisau hält 1959 in einer Fussnote fest: «Es wird eine denkmalpflegerische Aufgabe der kommenden Generation sein, diesen die Kirche und das ganze Ortsbild stark beeinträchtigenden Turm wieder zu entfernen.» Längst ist der Elefant, eine Pionierleistung des Eisenbetonbaus, denkmalgeschützt.

«Uschul­di­gi Chindli» – eine Ewigkeit ohne Freud und Leid

Ein Kind wird tot geboren. Gibt es etwas Traurigeres? Selbst ein Christenmensch mit einem Herz aus Stein muss annehmen, das Kind komme direkt in den Himmel. Dem ist nicht so. Wer nicht getauft ist, gehört nicht ins Paradies, und weil der Friedhof geweihte Erde umschliesst, dürfen Eltern ihr ungetauftes Kind auch nicht hier beerdigen. Bis etwa 1970 kommen Ungetaufte ins «Chilelöchli», in einen Schacht ausserhalb der Friedhofmauer.

Pfarrkirche Willisau, Schlossrain. Das «eiserne Türi» führt durch die Friedhofmauer zum dahinter liegenden «Chilelöchli» – ausserhalb der geweihten Erde. Um 1970 wird eine kleine Tafel angebracht: «Lasst die Kinder zu mir kommen; hindert sie nicht daran! Denn Menschen wie ihnen gehört das Reich Gottes.» Markus 10, 13–14. Datum, Namen und weitere Angaben fehlen. Ob das Becken mit Weihwasser dazu dient, die hier ungetauft zurückgelassenen Kinder nachträglich zu segnen, immer aufs Neue?
© Kurt Messmer

Das Katholische Messbuch von 1970 ermöglicht «im Vertrauen auf die Barmherzigkeit Gottes» erstmals eine Begräbnismesse für ungetauft verstorbene Kinder. Bereits Jahrzehnte vorher lindert der Volksglaube das Leid der Trauernden in Gedanken. Kinder, die ohne Taufe sterben, so die Vorstellung, sehen zwar «die Herrlichkeit Gottes» nicht, aber sie kommen an einen Ort, wo sie auch kein Leid erdulden müssen. «Ungefreute Kindli» bleiben eine Ewigkeit lang ohne Freude. Nicht finsteres Mittelalter, zweite Hälfte 20. Jahrhundert.

Unter demselben Dach – leben und arbeiten vor 500 Jahren

In unmittelbarer Nähe zum Chilelöchli befindet sich an der Müligass 5 ein Haus, Baujahr 1590, das im Spätmittelalter in die Häuserzeile irgendeiner Stadt gepasst hätte. Vom letzten Grossbrand 1704 verschont, verkörpert es den damaligen städtischen Haustyp modellhaft: im Erdgeschoss Werkstatt und Verkaufslokal, im ersten Stock Stube und Küche, im zweiten die Schlafkammern, darüber der Estrich.

Willisau, Müligass 5. Über dem gemauerten Erdgeschoss erhebt sich eine für damals typische Konstruktion aus senkrechten Ständern und waagrechten Bohlen, eine Bauform, die später vom Riegelbau abgelöst wird. Das Haus verfügt über Fensterbänder mit grossen Öffnungen und ist doppelt so breit wie das Nachbarhaus mit seinen bloss zwei Fensterachsen. Das vorspringende Satteldach gewährt Schutz und trägt zum repräsentativen Charakter bei.
© Kurt Messmer

Mit dem Stadtbrand von 1704 haben die «höltzine hüsli» ausgedient. Für den Wiederaufbau wird in der Umgebung nach einem «guoten stein» gesucht. Damit die Holzhäuser an der verschonten Müligass mithalten können, werden sie verputzt. Ein Upgrade: Aus Holzhaus mach Steinhaus. Die ehemaligen Holzfassaden aus dem 16. Jahrhundert kommen erst beim Restaurieren in den 1980er-Jahren wieder zum Vorschein. Eine wilde Geschichte. Heute geht es an der Müligass 5 in Willisau (fast) wieder zu wie in alten Zeiten: Ein Töpfer hat im Erdgeschoss seine Werkstatt und sein Verkaufslokal, darüber seine Wohnung.

Das Heilig­blut­wun­der – wie viele Geschich­ten braucht der Mensch?

Fünf Häuser von der Müligass 5 entfernt schliesst das Obertor die Stadt Richtung Napf ab. Unmittelbar ausserhalb des Tors steht die Heiligblutkapelle. Eine Erzählung berichtet von drei Männern, die sich hier zu Kurzweil treffen. Als einer sein ganzes Geld verliert, stösst er im Zorn sein Schwert in die Luft und ruft, es solle den Leib Christi durchbohren.

Sogleich fallen Blutstropfen auf den Spieltisch, der Gotteslästerer wird vom Teufel geholt. Beim vergeblichen Versuch, das Blut in der nahen Wigger abzuwaschen, wird der zweite Spieler vom Schlag getroffen. Der Dritte, von Läusen zu Tode gemartert, bricht am Stadttor zusammen. Die Blutstropfen werden aus der Tischplatte geschnitten und in einer Kapelle aufbewahrt, die bald darauf zum Gedenken an das Wunder errichtet wird.

Das Heiligblutwunder von Willisau: Illustration auf dem Ablassbrief für die Heiligblutkapelle in Willisau von 1498. Drei Spieler stehen um einen Spieltisch mit Würfeln. Der mittlere hat mit seiner linken Hand soeben das Schwert in den Himmel gestossen. Christus, begleitet von Maria, erhebt den Mahnfinger. Blutstropfen sind auf den Spieltisch gefallen. Der Spieler links deutet mit seinem Schwert an, was für ein rauer Geselle er ist; der Spieler rechts zeigt auf den Missetäter.

Auf der Suche nach dem Ursprung der Legende führt die entscheidende Spur in die Umgebung. 1447 ereignet sich im nahen Ettiswil ein Hostienraub, reich dokumentiert. Im unruhigen 15. Jahrhundert verbreitet sich die Kunde wie ein Lauffeuer. Eine Wallfahrt setzt ein, die dem Dorf Aufschwung und Einkünfte bringt, das Städtchen Willisau jedoch ins Abseits drängt. Das Beispiel wirkt. Fünf Jahre später, 1452, hat Willisau eine Heiligblutkapelle.

Die älteste Aufzeichnung der Legende lässt noch auf sich warten. 1498 ist es so weit. Doch drei zentrale Elemente fehlen: das Datum der Freveltat, der Name des Übeltäters, die Zahl der Blutstropfen. Diebold Schilling, sonst geradezu versessen auf Sensationen aller Art, erwähnt das Heiligblut in Willisau in seiner Chronik 1513 mit keinem Wort. Schilling sagt viel, wenn er nichts sagt.

Nach der Spaltung der Christenheit durch die Reformatoren weiss der Pfarrer von Willisau, was er seiner Konfession schuldet. 1564, zu Beginn der Gegenreformation, ergänzt er die Legende mit präzisen Angaben: Der Frevel fand am 7. Juli 1392 statt, der Missetäter hiess Uli Schröter, es waren fünf Blutstropfen – naheliegend, die fünf Wundmale Christi. Etliche «näbend tröpflin oder kleinen sprützling» sollen nicht Verwirrung stiften.

Willisau, Ablassfest, im Volksmund «Apliss». Einzug durch die Müligass in die Pfarrkirche. Jedes Jahr findet am zweiten Sonntag nach Pfingsten eine grosse Sühneprozession statt. Unter dem Baldachin wird in der Heiligblutmonstranz ein Tropfen Blut auf einem Stück Holz des Spieltischs durch die Strassen von Willisau getragen – «das wichtigste Fest des Jahres». Aufnahme von 2009.
© Stadtarchiv Willisau, Bruno Bieri

Gegen Ende der katholischen Reform wird die Heiligblutlegende vollends im Volksglauben verankert. Ein achtteiliger Bilderzyklus von 1638, heute im Landvogteischloss, inszeniert die Legende dramatisch. 1674 wird die noch heute bestehende Kapelle gebaut. Der repräsentative Barockbau erhält 1684 einen neuen Bilderzyklus von acht Gemälden. Details über Details. Die Kraft der Bilder. Und einmal mehr der Befund: je weiter die zeitliche Entfernung vom Ereignis, desto genauer das Wissen darüber. Eine Rekonstruktion gerät zum historischen Lehrstück.

Und sie bewegt sich doch

Auf dem Weg zurück zum Untertor ein letztes Verweilen. – Das historische Grundmuster als Erbe verstehen, das gleichermassen zum Bewahren und Weiterentwickeln verpflichtet. Auch eine Altstadt soll nicht erstarren, sondern lebendig bleiben.

Willisau, Chilegass 13. Die Vorgaben alt, die Deutung neu.
© Kurt Messmer

Wie geht Erneuern konkret? Auf tausenderlei Arten. Unweit der Pfarrkirche wird in Willisau 2002 ein beachtlicher Bau erstellt: Fussabdruck wie seit Jahrhunderten, Firsthöhe wie seit Jahrhunderten, Dachform wie seit Jahrhunderten, Traufhöhe wie seit Jahrhunderten – der Bau trotzdem seiner eigenen Zeit verpflichtet. Respekt vor dem Gewordenen bei gleichzeitigem Verzicht auf jede Anbiederung. Taugt auch für Ensembles oder Stadtteile. Zivilisation begreifen als Prozess, Erneuerung als Chance.

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Kurt Messmer / Schweizerisches Nationalmuseum
Quelle: Blogger / Freie
veröffentlicht: 12. Oktober 2024 15:33
aktualisiert: 12. Oktober 2024 15:33